SBA 59: Margarethe Billerbeck. Dionysios von Byzanz, Anaplus Bospori

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Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft (SBA)

Band 59 Im Auftrag der Schweizerischen Vereinigung für Altertumswissenschaft herausgegeben von Cédric Brélaz, Ulrich Eigler, Gerlinde Huber-Rebenich und Paul Schubert


Margarethe Billerbeck

Dionysios von Byzanz Anaplus Bospori Die Fahrt auf dem Bosporos Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar

Schwabe Verlag


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Abbildung Umschlag: Bosporos; Adobe Stock Gestaltungskonzept: icona basel gmbH, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4846-8 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4874-1 DOI 10.24894/978-3-7965-4874-1 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gliederung der Schrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Topographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Häfen, Ankerplätze und Fischfang. . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Geschichte, Mythos und Mirabilien. . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Kultorte und Sehenswürdigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Sprache, Stil und Gelehrsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Wortschatz und Syntax. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Stil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Hiatprophylaxe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Namensetymologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Überlieferung und Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Cod. Athous Vatopedinus 655 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Pierre Gilles (1489–1555). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ausgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV Kommentar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werktitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Proömium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Maiotis und dem Schwarzen Meer, vom Eingang des Bosporos, seiner Länge und Breite sowie dem stürmischen Verlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Beginn des europäischen Ufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Horn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Periegese: Βοσπόριος ἄκρα und Byzantion . . . . . . . . . . . . . . . Küste des Horns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europäische/Thrakische Küste des Bosporos . . . . . . . . . . . . . . . . . Asiatische Küste des Bosporos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

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Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1 Ausgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2 Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

VI Indices. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Allgemeiner Index. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Griechische Wörter und Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Stellenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Es ist bald hundert Jahre her, seit Rudolf Güngerich den Anaplus Bospori des Dionysios von Byzanz edierte, und seine Ausgabe ist bis heute die massgebliche geblieben. Doch die Klassischen Altertumswissenschaften haben sich mittlerweile stark entwickelt, sei es in Editionstechnik, sei es in der Erforschung literarischer Strömungen wie der Zweiten Sophistik und vor allem, meist interdisziplinär betrieben, im Bereich der antiken Siedlungsgeschichte. Für die letztere ist der Anaplus, was die frühe Phase am Bosporos betrifft, ein Grundlagentext. Es schien daher angezeigt, den Originaltext neu zu edieren, ihn erstmalig in einer deutschen Übersetzung auch einem breiteren Leserkreis zugänglich zu machen und durch einen Kommentar sowohl inhaltlich als auch formal zu erschliessen. Gefördert wurde das Interesse am Anaplus Bospori durch die Beschäftigung mit den Ethnika des Stephanos von Byzanz, der den Verfasser zwar nur einmal namentlich als Quellenautor zitiert, sein Werk aber mehrfach benutzt haben wird. Der Wunsch, die berühmte Wasserstrasse unter der kundigen Führung des Dionysios selbst einmal zu befahren, bleibt ungebrochen; doch dafür muss am Bosporos zuerst wieder Ruhe einkehren. Das Projekt stiess bereits in seinen Anfängen auf Interesse, und auf Zuspruch zur Ausarbeitung hörte ich gern. Mit dem Thema aus unserer langjährigen Zusammenarbeit vertraut, regte Arlette Neumann-Hartmann Publikation in ihrem Programmbereich beim Schwabe Verlag an. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft sei den Herausgebern herzlich gedankt, ganz besonders Paul Schubert, der es an aufmerksamer Durchsicht des Manuskripts, an Änderungsvorschlägen und Verbesserungen nicht fehlen liess. Aufrichtiger Dank geht auch an Jelena Petrovic, die mit Kompetenz und Engagement die Drucklegung begleitete. Fribourg, im Mai 2023

M. B.



1 Der Autor

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I Einleitung 1 Der Autor Über den Verfasser des Anaplus Bospori ist kaum etwas bekannt. Das einzige biographische Zeugnis findet sich in der Suda, δ 1176 Διονύσιος, Βυζάντιος, ἐποποιός. Περιήγησιν τοῦ ἐν τῷ Boσπόρῳ ἀνάπλου, Περὶ θρήνων· ἔστι δὲ ποίημα μεστὸν ἐπικηδείων. In dieser kurzen Notiz stimmt mit der Schrift, die auf uns gekommen ist, lediglich der Werktitel überein, wie ihn Stephanos von Byzanz im Eintrag Χρυσόπολις (χ 59) seines kulturgeographischen Lexikons bestätigt, Διονύσιος δ’ ὁ Βυζάντιος τὸν ἀνάπλουν τοῦ Βοσπόρου γράφων. Dass der Verfasser der bezeichneten Periegese epischer Dichter (ἐποποιός) war und Totenklagen (θρῆνοι), also Trauergedichte (ἐπικήδεια), verfasst habe, ist nirgends bezeugt.1 Im Eintrag der Suda wurde unser Dionysios vermutlich mit einem weiter nicht bekannten Dichter desselben Namens vermischt, zumal der Vorgängerartikel (δ 1175) dem Mytilenaier Dionysios Skytobrachion gewidmet ist, der nachfolgende (δ 1177) dem Dionysios von Korinth, welche der Lexikograph jeweils als ἐποποιός bezeichnet.2 Dionysios wird in den überlieferten Ethnika des Stephanos zwar nur einmal namentlich erwähnt; doch vergessen wir nicht, dass in einem Kürzungsprozess, wie ihn das Lexikon erfahren hat, die Eigennamen von Gewährsautoren dem Epitomator als erstes zum Opfer fallen. Wie Textvergleiche zeigen, dürfte auch in den folgenden Artikeln aus dem Anaplus geschöpft worden sein: β 190 Βυζάντιον (hier §§ 14 und 23), γ 119 Γυναικόσπολις (§§ 59 und 60), δ 35 Δάφνη (§ 95), σ 311 Συκίς (§ 33), φ 61 Φιάλεια (§ 100), φ 106 Φρίξου λιμήν (§ 99) und χ 15 Χαλκηδών (§ 111). Dasselbe gilt für die Patria von Konstantinopel (Πάτρια Κωνσταντινουπόλεως) des Hesychios von Milet (§§ 3–4, hier §§ 23–25; §§ 6–9, hier § 24; § 11, hier § 109), es sei denn, ihm wie Dionysios habe dieselbe Quelle vorgelegen (so Preger 1901, 2). Was die Lebenszeit unseres Autors betrifft, haben wir mit der Erwähnung bei Stephanos von Byzanz und dessen Wirken unter Justinian I. lediglich einen terminus ante quem. Doch Sprache und Stil des Anaplus, die literarischen An1

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Güngerichs Vermutung (1927, 21958, S. XLIII), ἐποποιός beziehe sich auf die gelegentlichen poetischen Anleihen, welche Dionysios bei Homer machte, überzeugt nicht; derlei gehört vielmehr zur Kunstprosa, wie sie in der Zweiten Sophistik gepflegt wurde (dazu s. unten S. 11. 21. 29). Alle drei Autoren sind in RE V 1, s.  v. aufgenommen: Nr. 91 (Dionysios von Korinth), Nr. 98 bzw. Nr. 114 (Dionysios von Byzanz) und Nr. 109 (Dionysios von Mytilene).


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I Einleitung

leihen sowie das Kokettieren mit Gelehrsamkeit verraten Eigenheiten der Zweiten Sophistik und weisen das Werk mit grösster Wahrscheinlichkeit dem 2. Jh. n. Chr. zu. Verfasst wurde es wohl vor der Eroberung von Byzanz durch Septimius Severus (196), denn das Argument, Dionysios hätte die Zerstörung der Stadt und besonders ihrer wehrhaften Mauern (vgl. Herodian 3,6,9) nicht unerwähnt gelassen, schlägt durch, sind doch auch verschwundene Monumente Bestandteil der Periegese. Dieser Datierungsansatz hat sich in der Forschungsliteratur durchgesetzt.

2 Das Werk Handbücher der griechischen Literaturgeschichte schreiben das Werk der Gattung Περίπλοι (‹Küstenbeschreibungen›) zu, wie es der Titel im Hinterglied (-πλους) suggeriert.3 Da die Fahrt auf einer Wasserstrasse erfolgt, wird das Vorderglied ἀνά- dem Weg der thrakischen Küste stroman zum Schwarzen Meer entsprechend angepasst. Da Dionysios aber auch die Rückfahrt entlang der asiatischen Seite des Bosporos bis zum Ausgangspunkt beschreibt, bleibt die Vorstellung einer Rundfahrt (περί) erhalten. Der Anaplus Bospori ist allerdings weit mehr als ein Logbuch, welches Orte, Vorgebirge, Flussmündungen, Ankerplätze, Häfen und die entsprechenden Zwischendistanzen verzeichnet.4 Die wenigen Massangaben beschränken sich auf Länge und Breite des Bosporos, die Fläche der Maiotis und des (Goldenen) Horns. Über die Erwähnung der geologischen, hydrologischen und klimatischen Eigenschaften des Sunds sowie die dort herrschenden Windverhältnisse hinaus lädt der Verfasser zu einer kulturgeographisch orientierten Küstenfahrt ein, die literarisch gestaltet und sprachlich ausgefeilt ist. Genau diesen Anspruch gibt die Suda zu erkennen, wenn sie sinngemäss den Werktitel durch Περιήγησις erweitert. Dionysios versetzt sich in die Rolle des Fremdenführers: Den Schiffsreisenden (§ 1 τοῖς ἀναπλέουσιν εἰς τὸν Εὔξεινον Πόντον), die gekommen sind, um die Landschaft und die Örtlichkeiten zu sehen (ἰδοῦσι), wird er deren Namen und Geschichte erklären (ἱστορία).5 Zugleich ist dieser Baedeker Reklame an die Adresse jener, die über die Dinge am Bosporos zwar bereits gehört, sie aber noch nicht besucht und bestaunt (οἱ δὲ μὴ θεασάμενοι) haben. Die Visualisierung des Beschriebenen wird immer wieder thematisiert; so ist ὄψις ein Schlüsselwort nicht bloss im Proömium, sondern evoziert die Vorstellung von Örtlichkeiten auch sonst (§§ 20. 3 4 5

So Güngerich (1950) 21–22; Olshausen (1991) 67–68 und 86. Vgl. Marc. Peripl. Maris ext. 1,2 (GGM I 517,9) τῆς γὰρ τοιαύτης ὑποθέσεως τὸ ἀκριβὲς οὐκ ἐν ταῖς θέσεσι τῶν τόπων μόνον καὶ πόλεων καὶ νήσων καὶ λιμένων ἐχούσης, ἀλλὰ πρό γε πάντων ἐν τοῖς σταδίοις καὶ ταῖς τῶν χωρίων διαμετρήσεσιν. Auch für Philon von Byzanz, den spätantiken Verfasser einer Schrift über die sieben Weltwunder (Περὶ τῶν ἑπτὰ θεαμάτων), ist Bildung (παιδεία) und die kulturgeschichtliche Betrachtung (ἱστορία) von Kunstdenkmälern unabdingbar, da ‹sightseeing› (ὁρᾶν) allein lediglich flüchtige Erinnerungen (φεύγουσιν αἱ μνῆμαι) hinterlasse, s. Brodersen (1992) 20.


2 Das Werk

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55. 102).6 Ein häufiges stilistisches Element ist der Vergleich (καθ’ ὁμοιότητα, ἀπὸ τοῦ σχήματος/a figura) der jeweiligen geologischen Beschaffenheit mit einem Lebewesen bzw. einem Objekt (§§ 6. 29. 38. 53. 55. 58. 91. 96. 98. 101. 102. 107). Dass das angesprochene Publikum gebildet ist, sich in der Mythologie und in den klassischen Autoren auskennt, dürfen wir angesichts der im Text eingestreuten Anspielungen und literarischen Anleihen annehmen. Denn im Vordergrund der Periegese steht nicht so sehr die Einzelbeschreibung von Monumenten und Bildwerken (ἔκφρασις), sondern es überwiegen die jeweilige Erzählung (λόγος) über Herkunft und Bedeutung des Ortsnamens sowie die Legenden, welche damit verknüpft sind. Güngerichs Vermutung, das literarische Genre, wie es der Anaplus verkörpert, sei in der Zweiten Sophistik wohl verbreitet gewesen, lässt sich beim stark reduzierten Bestand antiker Literatur nicht überprüfen. In ihrer Eigenart gleicht die Schrift wohl am ehesten dem Periplus Ponti Euxini des Arrian, der mit dem kaiserlich angeordneten Fahrtbericht eine literarisch ausgefeilte Schilderung der Schwarzmeerküste verbindet.7 Auch wenn sich der Verfasser des Anaplus Bospori über seine Quellen und literarischen Vorbilder ausschweigt, bleiben – wie in diesem schriftstellerischen Metier nicht ungewöhnlich – thematische Überschneidungen mit früheren, namenlos gebliebenen Autoren, Inspiration aus solchen und sprachliche Anleihen nicht verborgen.8 Dies betrifft als chronologisch ersten Herodot, sei es in der Geschichte vom Sänger und dem Delphin (§ 42), sei es in der Siedlungsgeschichte der Myser und Teukrer (§ 54) oder der Persergeschichte (§ 57); vgl. ferner §§ 2. 3. 14. 97. 106. Nicht überraschend sind die sprachlich-stilistischen Anleihen bei Thukydides (§§ 5. 6. 10. 15. 109). Der Exkurs des Polybios über den Thrakischen Bosporos und die günstige Lage von Byzantion (4,39–43) ebenso wie der dortige Bericht über den Zollkrieg (47) hat im Anaplus deutliche Leserspuren hinterlassen (§§ 1–3. 47). Ignoriert von Güngerich wurde der erkennbare Einfluss von Strabons Geographika (§§ 2. 3. 6. 23. 45. 75. 77. 82. 86. 92. 102);9 s. ferner unten S. 20. Dass 6

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Hinzuzunehmen sind auch die entsprechenden Begriffe im lateinischen Zwischentext (Gilles), so aspectus (§§ 67. 70. 86. 87) und visio (§§ 69. 87); vgl. ferner §§ 77 und 85. Dass Visualisierung (ὄψις) und lebhafte Darstellung (ἐνάργεια), wie sie die Rhetorik abhandelt und fordert, im Gedicht des Dionysios Periegetes ebenfalls zentrale Elemente sind, zeigt Lightfoot (2014) 114–117. Güngerich S. XLI: «huiusmodi peripli quin a multis scriptoribus tum compositi sint, vix dubito, unus vero Anaplus Bospori nunc exstat». Zu Arrians Periplus s. Güngerich (1950) 19–21; ferner Silberman (1995) S. XXIV–XXVII, sowie vor allem Belfiore (2009), der da­ rüber hinaus den Anaplus Bospori (S. 93–95) in den Bereich der antiquarischen und periegetischen Literatur (bes. Pausanias) einzureihen versucht und auf Nähe zu Verfassern von Gründungsgeschichten (κτίσεις) hinweist. In den folgenden Angaben ist jeweils der Kommentar zu den erwähnten Paragraphen zu konsultieren. Wie Diller (1975) 7–10 aufzeigt, gibt es im Zeitalter der Zweiten Sophistik zwar nur vereinzelte Spuren für Verbreitung und Kenntnis von Strabons Geographika. Wenn aber der


I Einleitung

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bei der gattungsgeschichtlichen Nähe zu Arrian auch aus dessen Periplus Anregung kam, ist zu erwarten (§§ 2. 19. 77. 87. 92. 95). 2.1 Gliederung der Schrift Den literarischen Reiseführer, stromaufwärts entlang der europäisch-thrakischen Küste und am asiatischen Ufer zurück zum Ausgangspunkt, gestaltete Dionysios als Ringkomposition, deren Schlüsselwort ἱστορία ist (§ 1 und § 112). Die Gliederung gibt er gleich selbst an: Nach einer kurzen Einleitung (§ 1) in das Vorhaben folgt (§ 2 ἀρχή) die allgemeine Beschreibung (§ 6 τὰ μὲν καθόλου) des Sunds. Danach beginnt die Reihe der einzelnen Örtlichkeiten (τὰ δὲ ἐπὶ μέρους, §§ 7–111), deren Namen, Lage, Geschichte und Bedeutung der Verfasser erklärt. Dieser Reiseführer zum Bosporos ist so ausführlich wie keine andere aus der Antike erhaltene Darstellung der Gegend und dient daher bis in die heutige Zeit als Leitfaden für die Siedlungsgeschichte der wichtigen Wasserstrasse.10 Die folgende Liste (nach §§) umfasst rund 150 Örtlichkeiten (Vorgebirge, Buchten, Küstenstriche, Klippen, kleine Inseln, Flüsse, Häfen/Ankerplätze, Siedlungen, Kultorte), welche der Autor erwähnt bzw. namentlich anführt: 1 2–3 4–12 5–6 7 8 9 10 11 12

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Proömium Allgemeines über den Bosporos Beginn des europäischen Ufers Horn (Κέρας) Bosporios Akra (Βοσπόριος ἄκρα) Altar der Athena Ekbasios ( Ἐκβασίου βωμὸς Ἀθηνᾶς) Poseidontempel (Ποσειδῶνος νεώς) Stadien, Gymnasien, Rennbahnen (στάδια, γυμνάσια, δρόμοι) drei Häfen (τρεῖς λιμένες) Wehrturm (πύργος), Ebene (πεδίον) und Heiligtum der Gaia Anesidora (Γῆς Ἀνησιδώρας τέμενος) Küste des Horns Doppeltempel von Demeter und Kore (Δήμητρος καὶ Κόρης παράλληλα) die Tempel der Hera und des Pluton (δύο νεῴ Ἥρας καὶ Πλούτωνος) Skironische Felsen (Σκιρωνίδες πέτραι) Kykla (Κύκλα) Altar der Athena Skedasia (βωμὸς Σκεδασίας Ἀθηνᾶς)

Verfasser des Anaplus Bospori das Werk, wie hier angenommen, kannte und benutzte, ohne ihn zu zitieren, entspricht dies schriftstellerischer Gepflogenheit. Dasselbe trifft offenbar auch auf Dionysios Periegetes zu (so Diller 7–8). So in den Bänden TIB 12 (Ostthrakien) für die europäische Küste und TIB 13 (Bithynien und Hellespont) für die asiatische, s. ferner Russell (2017). Immer noch zu konsultieren für den Bosporos RE III 1 (1897) 746–755 und für das (Goldene) Horn RE XI 1 (1921) 257–261.


2 Das Werk 17 18 19 20 21 22 23

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Melias-Bucht (Μελίας κόλπος) Gartenbezirk (Κῆπος) Hapsasieion (Ἁψασιεῖον) Kap Mellapokopsas (Μελλαποκόψας ἄκρα) Ingenidas ( Ἰνγενίδας) Peraïkos (Περαϊκός) Kittos (Κιττός) Kamara (Καμάρα) Faules Meer (Σαπρὰ Θάλασσα) Polyrrhetion (Πολυρρήτιον) Tiefe Warte (Βαθεῖα Σκοπιά) Blachernas (Βλαχέρνας) Palodes (Παλῶδες) Kydaros, Fluss (Κύδαρος) Barbyses, Fluss (Βαρβύσης) Altar der Semystra (Σημύστρας βωμός) Kap Drepanon (Δρέπανον ἄκρα) Rinderhort, Hügel (Βουκόλος λόφος) Mandrai (Μάνδραι) Drys (Δρῦς) Auleon, Bucht (κόλπος Αὐλεών) Brücke des Philipp (γέφυρα Φιλίππου) Altar des Nikaios (Νικαίου βωμός) Neos Bolos (Νέος Βόλος) Aktis (Ἀκτίς) Krenides (Κρηνίδες) Kyboi (Κύβοι) Kanopos (Κάνωπος) Meizon, Fluss (Μείζων ποταμός) Choiragria (Χοιράγρια) Europäische/Thrakische Küste des Bosporos Grabstätte des Hipposthenes (τάφος Ἱπποσθένους) Sykides (Συκίδες) Heiligtum des Schoiniklos (Σχοινίκλου τέμενος) Auletes (Αὐλητής) Bolos (Βόλος) das Heiligtum der Artemis Phosphoros und der Aphrodite Praeia (τέμενος Ἀρτέμι­ δος Φωσφόρου καὶ Ἀφροδίτης Πραείας) Ostreodes (Ὀστρεώδης) Metopon (Μέτωπον) Aiantion (Αἰάντιον) Palinormikon (Παλινόρμικον) Tempel des Ptolemaios Philadelphos (νεὼς Πτολεμαίου τοῦ Φιλαδέλφου) Delphin/Karandas (Δελφίν/Καράνδας) Thermastis, Klippe (Θέρμαστις πέτρα) Pentekontorikon (Πεντηκοντορικόν) Skythenplatz (Τὰ Σκύθου) Iasonion ( Ἰασόνιον) Periboloi der Rhodier ( Ῥοδίων Περίβολοι)


I Einleitung

14 48 49 50 51 52 53 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Archeion (Ἀρχεῖον) der Meergreis (Γέρων Ἅλιος) Parabolos (Παράβολος) Kalamos (Κάλαμος) Bythias (Βυθίας) Lorbeer der Medea (δάφνη Μηδείας) Heiligtum der Göttermutter (Μητρὸς Θεῶν ἱερόν) Hestiai ( Ἑστίαι) Chelai (Χηλαί) Heiligtum der Artemis Diktynna (Δικτύννης ἱερὸν Ἀρτέμιδος) Pyrrhias Kyon (Πυρρίας Κύων) Brandende Küste ( Ῥοώδης ἄκρα) Phaidalia (Φαιδαλία) Winterlicher Sturzbach (χειμάρρους) Frauenhafen (Γυναικῶν Λιμήν) Kyparodes (Κυπαρώδης) Tempel der Hekate (templum Hecatae) Lasthenes, Bucht (<sinus> Lasthenes) Komarodes (Κομαρώδης) Bacchische Klippen (Bacchiae cautes) Thermemeria (Θερμημερία) Hafen des Pithekos (Πιθήκου Λιμήν) Schöne Meeresruhe, Bucht (Εὔδιος Καλός) Pharmakias, Bucht (Φαρμακίας) Schlüssel und Riegel des Pontos, Steilküste (Κλεῖδες καὶ Κλεῖθρα τοῦ Πόντου) Dikaia, Felsen (Δικαία) Tiefer Golf (Βαθύκολπος) Altar des Saron (Saronis ara) Schönefeld (Καλὸς Ἀγρός) Kap Simas (Σιμᾶς) Statue der Venus Meretricia (Ἀφροδίτη Ἑταίρα) Skletrinas, Bucht (Σκλητρίνας) Altäre des Apollon und der Göttermutter (arae Apollinis et Matris deum) Kap Milton (Μίλτον) Hieron ( Ἱερόν, Fanum) Tempel der Phrygischen Göttin (templum deae Phrygiae) Chrysorrhoas, Bach (Χρυσορρόας) Chalkeia (Χαλκεῖα) Timaia, Turm (Τιμαίας Πύργος) Phosphoros (Φωσφόρος) Hafen der Ephesier ( Ἐφεσίων Λιμήν, Ἐφεσιάτης) Aphrodision (Ἀφροδίσιον) Hafen der Lykier (Λιμὴν Λυκίων) Myrleion (Μύρλειον) Liknias, Bucht (?) (Λικνίας) Gypopolis, felsige Anhöhe (Γυπόπολις) Dotine, Klippe (Δωτίνη) Kap Panium (Πάν[ε]ιον) Kyaneen (Κυανέαι)


2 Das Werk 87–111 Asiatische Küste des Bosporos Kap Ankyrion (Ἀγκύριον) 87 88 Turm der Medea (Πύργος Μηδείας) 89 Kyaneen (Κυανέαι) 90 Kap Korakion (Κοράκιον) Panteichion, Küstenfestung (Παντείχιον) Chelai (Χηλαί) 91 92 Hieron ( Ἱερόν) 93 antike Bronzestatue eines Knaben 94 Kap Argyronion (Ἀργυρώνιον) 95 Bett des Herakles ( Ἡρακλέους Κλίνη) Nymphaion (Νυμφαῖον) Der Verrückte Lorbeer (Δάφνη Μαινομένη) 96 Mukaporis, Bucht (Μουκάπορις κόλπος) Adlerschnabel, Vorgebirge (ἀκρωτήριον Αἰετοῦ Ῥύγχος) 97 Amykos, Golf (κόλπος Ἄμυκος) Gronychia, Ebene (Γρωνυχία πεδίον) Palodes (Παλῶδες) 98 Katangeion, Bucht (Κατάγγειον κόλπος) Kap Oxyrrhus (Ὀξύρρους ἄκρα) 99 Hafen des Phrixos (Φρίξου Λιμήν) 100 Phiela, Ankerplatz (ὅρμος Φιέλα) 101 ‹Theater› (θέατρον) 102 Lembos, Landspitze (ἄκρα Λέμβος) Blabe, Inselchen (νῆσος πάνυ βραχεῖα Βλάβη) 103 Potamonion (Ποταμώνιον) Nausikleia (Ναυσίκλεια) 104 Kap Echaia ( Ἐχαία ἀκρωτήριον) Lykadion, Bucht (Λυκάδιον κόλπος) 105 Nausimachion (Ναυσιμάχιον) 106 Kikonion (Κικόνιον) 107 Rauschespitzen (ἄκραι Ῥοιζοῦσαι) Diskoi, zwei Felsen (Δίσκοι) 108 Metopon, Küstenstrich (Μέτωπον) 109 Chrysopolis (Χρυσόπολις) 110 Kap Bus (ἄκρα Βοῦς) 111 Quelle des Heragoras ( Ἡραγόρα κρήνη) Heiligtum des Eurostos (τέμενος Εὐρώστου) Himeros, Fluss ( Ἵμερος ποταμός) Heiligtum der Aphrodite (τέμενος Ἀφροδίτης) Chalkedon (Χαλκηδών), Fluss und Stadt Heiligtum mit Orakel des Apollon (τέμενος καὶ χρηστήριον Ἀπόλλωνος)

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I Einleitung

2.2 Die Themen 2.2.1 Topographie Nicht weniger bedeutend als die kommentierte Aufzählung der zahlreichen Örtlichkeiten ist es für den Periegeten, die Geographie des Bosporos zu beschreiben, dem Leser die Küstenformationen mit den Vorgebirgen (ἀκρωτήρια, ἄκραι) und den Buchten (κόλποι) vor Augen zu führen. Erwähnung finden die zahlreichen Gewässerzuflüsse (ποταμοί), die berüchtigten Windverhältnisse und vor allem die starke Oberwasserströmung mit ihren Gefahren für Schiffsleute und Fischer. Doch selbst in dieser wilden Landschaft fehlt es nicht an lauschigen Buchten, gleichsam ein Hauch von locus amoenus (§§ 29. 68. 71. 108). Und für ein ‹wow!› bei den Reisenden dürfte der illusionistisch gestaltete Ausblick auf das Schwarze Meer (§§ 69 und 87) gesorgt haben. Dionysios wählte einen objektiven Stil und berichtet im Gegensatz zu Arrian nicht in ‹ich›- bzw. in ‹wir›-Form; denn Ausdrücke wie ἔδοξέ μοι (§ 1), μοι δοκεῖ/δοκοῦσι bzw. mihi videtur (§§ 3. 7. 57), οἶμαι (§§ 12 und 16) und οὐκ οἶδα (§ 23) sind formelhaft. Einmal greift er zum stilistischen Kunstgriff der Autopsie (§ 53 εἶδον), um einen Landungsverlauf möglichst dramatisch zu beschreiben. 2.2.2 Häfen, Ankerplätze und Fischfang Als Verbindung zwischen Ägäis und Schwarzem Meer gehörte der Bosporos bereits in der Antike zu den wichtigsten Wasserstrassen für Kolonisation, Seefahrt und Handel.11 Es gibt zahlreiche Ankerplätze (ὅρμοι), die oft namenlos bleiben, und Häfen (λιμένες), unter welchen der Frauenhafen (§ 60), die Häfen der Ephesier (§ 79) und der Lykier (§ 81) sowie jener des Phrixos (§ 99) auch aus anderen literarischen Quellen bekannt sind. Grosse wirtschaftliche Bedeutung kommt der Fischerei und der Austernzucht (§ 37) zu, weshalb Dionysios nicht müde wird, auf den Fischreichtum des Bosporos und die besten Orte für den Fang hinzuweisen (§§ 1. 5. 6. 16. 17. 18. 21. 23. 36. 68. 71. 98). Besonders einträglich war der Thunfischfang (§ 97). Und es dürfte dem Lokalstolz geschuldet sein, wenn der Verfasser beschreibt, wie die Strömung zu Ungunsten der Chalkedonier die Fische vom asiatischen Ufer in Richtung Byzanz abtreibt (§ 102).12

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TIB 12,295–297. Zu Jagd und Fischfang s. TIB 12,218–219; zum letzteren vor allem Russell (2017) 133–159.


2 Das Werk

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2.2.3 Geschichte, Mythos und Mirabilien Woher Dionysios stammte, wissen wir nicht, auch wenn ihm die handschriftliche Überlieferung das Ethnikon Βυζάντιος zulegt; und für Byzanz schlägt sein Herz. Fester Bestandteil der Periegese ist neben den Mythen, den Kultorten und den Sehenswürdigkeiten die Geschichte und deren Erforschung, also die ἱστορία der Stadtgründung, der Auseinandersetzungen mit den Vorbewohnern und den (barbarischen) Nachbarn. Präzise Daten wie in einem modernen Geschichtsbuch fehlen erwartungsgemäss; es sind die Eigennamen von Herrschern und Völkern, welche für das Geschick der grossen Stadt am Bosporos stehen. Wie Chalkedon um 685 v. Chr. wurde eine Generation später Byzantion um 660 v. Chr. von Kolonisten aus Megara besiedelt; dieser Tradition jedenfalls schliesst sich Dionysios an. Zwar ist zuerst lediglich von Leuten die Rede, die von der Bosporischen Landspitze (Βοσπόριος ἄκρα) ausschwärmten und das Umland sukzessive in Besitz nahmen (§ 8 ἐκβάντες οἱ τὴν ἀποικίαν στολαγωγήσαντες). Dass sie dabei auf Widerstand der Vorgängerbevölkerung stiessen (§ 53), überrascht keineswegs. Als Teilnehmer der Kolonisation werden auch Korinthier (§ 15) sowie Arkadier (§ 19) genannt, und inbegriffen sind zudem Argiver (vgl. §§ 34. 63); doch an Megara als der Mutterstadt gibt es keinen Zweifel. Von dort brachten die Oikisten manchen Heroenkult mit, so für Polyeidos (§ 14), für Hipposthenes (§ 32), für Schoiniklos, den Wagenlenker des Amphiaraos (§ 34), für Aias den Telamonier (§ 39) und für Saron (§ 71). Im Gebiet von Hestiai sollen sich die vornehmsten Megarer niedergelassen haben (§ 53), und ein Megarer namens Lasthenes habe der Bucht beim HekateTempel den Namen gegeben (§ 63); Ähnliches gilt für das Kap Echaia (§ 104).13 Aus der Frühgeschichte von Byzantion erwähnt der Verfasser den Perserkönig Dareios (I.), der auf seinem erfolglosen Zug gegen die Skythen (513/512 v. Chr.) eine Brücke über den Bosporos schlagen liess (§§ 14. 57). Der Name Philipps (II.) von Makedonien (§§ 14. 27. 65) ruft die Belagerung der Stadt und deren heldenhafte Verteidigung (340/339 v. Chr.) in Erinnerung; das Heiligtum des Ptolemaios Philadelphos verehrt dessen Grosszügigkeit gegenüber den Byzantiern (§ 41). Der Zollkrieg mit den Rhodiern (220 v. Chr.) bleibt unvergessen (§ 47), ebenso die wechselvolle Geschichte des Hieron auf asiatischer Seite (§ 92); und selbst die Rivalin Chalkedon wird mit der Erwähnung einer Seeschlacht im Kontext der Diadochenkämpfe in die historischen Ereignisse am Bosporos einbezogen (§ 103).14 13 14

Zur megarischen Tradition von Byzantions Gründungsgeschichte s. Robu (2014) 248–285; Russell (2017) 205–210 sowie 214–216. Über die Frühgeschichte von Byzantion (wegen der Einarbeitung der antiken Quellen) immer noch lesenswert ist der Abriss von J. Miller in RE III 1 (1897) 1116–1150; s. ferner Inventory (2004) Nr. 674 sowie TIB 12,68–76. Für die Diskussion über das Gründungsdatum sowie weitere Literatur s. Boshnakov (2004) 139–153; dortiger Ausgangspunkt ist Ps.-


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I Einleitung

Was die Gründung von Byzantion betrifft, gehen Geschichte und Mythos Hand in Hand.15 Eine einheitliche mündlich überlieferte Gründungslegende scheint es nicht gegeben zu haben. In § 24 referiert Dionysios zwei Versionen: Einerseits soll der dem Apollon heilige Rabe den Kolonisten das Kap Bosporios als den vom Gott vorgesehenen Siedlungsort bezeichnet haben. Andererseits folgt der Verfasser in Übereinstimmung mit seiner Vorliebe für Namensetymologien der Version, Byzas, Sohn von Poseidon und Keroëssa, Ios Tochter, habe als Gründer der Stadt zu gelten. Verknüpft ist diese Legende mit dem Mythos der Io (§ 7), die von der eifersüchtigen Hera in eine Kuh verwandelt wurde und mit ihrer Flucht durch die Wasserstrasse dem Bosporos den Namen (βοῦς + πόρος) gegeben habe. Wenn sich der Verfasser angesichts abweichender Fassungen auch nicht festlegen will (πεπιστεύσθω δὲ τῶν λόγων ὁ θειότερος), erhöhen bekannte Mythen die Berühmtheit des Sunds; das trifft vor allem auf die Argonautensage zu. So führte für Iason (§§ 24. 49. 75. 87) und seine Gefährten nicht bloss der Hinweg nach Kolchis durch den Bosporos, sondern auch – entgegen der bekannteren Version – die Rückreise von dort (s. Komm. zu § 75). Das Iasonion (§ 46) erinnert an einen Zwischenhalt der Helden, dasselbe gilt für das Kap Ankyrion, und die Symplegaden (§§ 3. 89) stehen für die gefährliche Durchfahrt der Argonauten in den Pontos. Es fallen bekannte Namen der Sage, so Herakles (§ 95), Phineus (§ 84), Phrixos (§§ 92. 99) und Polydeukes, der den Bebrykerkönig Amykos besiegte (§§ 95. 97). Prominent vertreten ist Medea, die an der thrakischen Küste der Wasserstrasse einen Lorbeer gepflanzt (§ 51), ihr Kästchen mit den Zaubermitteln hinterlegt (§ 68) und einem Turm den Namen gegeben (§ 88) hatte.16 Neben der Belehrung in Geographie, Geschichte und den Kulten möchte eine Reisegesellschaft aber auch unterhalten sein; dafür streut der literarisch wendige Verfasser rührende Wundergeschichten (Mirabilia, Paradoxa) ein: Ein Delphin wird wegen seiner Treue zum byzantischen Sänger Chalkis getötet, gibt aber dadurch der Örtlichkeit des Geschehens den Namen (§ 42). Phaidalia, die sich aus Scham über eine Liebesaffäre mit Byzas ins Meer gestürzt hatte, wird von ihrem Grossvater Poseidon als Eponyme des Kaps rehabilitiert (§ 59). Das Standbild eines Knaben im asiatischen Hieron ist Gegenstand von mehr als einer wundersamen Rettungsgeschichte (§ 93). Artemis Diktynna rächt sich für den Opferraub der Kyzikener, lässt sich aber besänftigen, als diese Genugtuung leisten (§ 56). Und der Felsen Dikaia schliesslich zeugt davon, dass sich unredliches Geschäftsgebaren nicht lohnt (§ 70).

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Scymn. 715–717 Σηλυμβρία, | ἣν οἱ Μεγαρεῖς κτίζουσι πρὶν Βυζαντίου· | ἑξῆς Μεγαρέων εὐτυχοῦν Βυζάντιον. Dazu s. Russell (2017) 210–222. Zur Bosporosfahrt der Argonauten bei Dionysios von Byzanz im Vergleich mit den Argonautika des Apollonios Rhodios s. Vian/Delage (1974) 128–141, bes. 128–133; ferner Russell (2017) 41–43.


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2.2.4 Kultorte und Sehenswürdigkeiten Der Bosporos mit dem Horn ist gesäumt von zahlreichen Kultorten: Unter den Gottheiten nimmt Apollon – angesichts seiner Orakel nicht überraschend – den Spitzenplatz ein (§§ 26. 38. 46. 74. 86. 111). An mehreren Orten werden Artemis (§§ 36. 56. 78) und Aphrodite (§§ 36. 73. 80. 111) verehrt. Es folgen die Tempel und Altäre der Athena (§§ 8. 16), der Demeter und Kore (§ 13), der Gaia (§ 12), der Hekate (§ 62), der Hera (§ 14), des Pluton (§ 14), von Poseidon (§ 9) sowie der Göttermutter (§§ 52. 74. 75). Das wichtigste Heiligtum am Bosporos war ohne Zweifel das asiatische Hieron, dem Ζεὺς Οὔριος geweiht (§ 92). Was den Heroenkult betrifft, wurden jene Heroen bereits erwähnt, deren Verehrung die megarischen Kolonisten mitgebracht haben (s. oben S. 17). Es gibt aber auch einheimische (ἐγχώριοι bzw. ἐπιχώριοι) Heroen, denen Verehrung durch einen Altar zukam, so Νικαίου βωμὸς ἥρωος (§ 28), oder durch den Status eines Eponyms, wie dies der Fall ist bei Melias (§ 17), Ingenidas (§ 21) und Eurostos (§ 111). Das gilt auch für die hübsche Simas, die dem Vorgebirge, wo sie unter dem Schutz der Ἀφροδίτη Ἑταίρα/Πάνδημος den anlegenden Matrosen ihren Liebesdienst anbot, den Namen gab (§ 73). Die Beschreibung von Denkmälern, von besonderen Gebäulichkeiten und Plätzen gehört ebenfalls ins Repertoire eines Reiseführers. Erwartungsgemäss beziehen sich im Anaplus Bospori derlei Erwähnungen vor allem auf Byzantion, während es für die Rivalin Chalkedon bloss für ein verallgemeinerndes πολλὰ θαυμάσια reicht (§ 111). Die Periegese auf der Βοσπόριος ἄκρα beginnt mit dem archaischen, schlichten Poseidontempel am Meeresufer (ἀρχαῖος καὶ λιτός), welchen die Byzantier als rares Wunderstück unter die wenigen ähnlichen Monumente in die Oberstadt versetzen wollten (§ 9). Dem Meeresufer entlang gibt es Stadien, Gymnasien und eine Rennbahn für die Jugend (§ 10). Auch darf der Blick auf die eindrückliche Stadtbefestigung nicht fehlen (§ 12). Die alten Tempel der Hera und des Pluton stehen nicht mehr (§ 14), wurde der erstere doch von den Persern auf ihrem Feldzug gegen die Skythen niedergebrannt, der letztere von Philipp II. anlässlich der Belagerung von Byzantion abgetragen.17 Auf den Makedonen geht auch die Brücke zurück, welche er über das Horn schlagen liess (§ 27). Schon zuvor hatte der Samier Mandrokles auf Befehl des Dareios eine Brücke gebaut; dort sehe man heute noch den steinernen Thron für den persischen König (§ 57). Vom Ringgemäuer der Rhodier aus der Zeit des Zollkriegs sind lediglich noch Ruinen zu sehen (§ 47); ähnlich verhält es sich mit den alten Schutzgräben am Strand von Panteichion (§ 90). Und beim berühmten Hieron auf der asiatischen Seite hin-

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Russell (2017) 66 Anm. 46 erwägt Zerstörung durch Philipp V. anlässlich der Belagerung von Byzantion im Zweiten Makedonischen Krieg (200/199 v. Chr.); s. aber unten Komm. zu § 14.


I Einleitung

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terliess der Ansturm der barbarischen Galater Spuren der Zerstörung (§ 92); doch blieb im Heiligtum eine antike Bronzestatue erhalten (§ 93). 2.3 Sprache, Stil und Gelehrsamkeit Was Sprache und Stil des Dionysios betrifft, beschränkt sich die folgende Darstellung auf die Teile, welche in der griechischen Originalsprache überliefert sind (§§ 1–56 und §§ 96–112). Dem Themenbereich widmete Güngerich in der Einleitung zu seiner Ausgabe grosse Aufmerksamkeit (S. XXVIII–XL), wobei der Attizismus im Fokus steht. Die auf Vollständigkeit angelegte Bestandesaufnahme umfasst Wortschatz, Syntax, Hiatprophylaxe, Stilfiguren, Poetismen und literarische Anleihen. Hier hingegen soll die Sprachkunst des Autors an spezifischen Einzelbeispielen, wie sie auch im Kommentar Platz gefunden haben, verständlich gemacht werden. 2.3.1 Wortschatz und Syntax Eine Erbschaft aus den Periploi sind die Konjunktionen und Adverbien, welche die aufgezählten Örtlichkeiten reihen, an denen man vorbeifährt; da ist Variation angesagt: Am häufigsten verwendet Dionysios μετά (§§ 16. 18. 21. 23. 26. 27. 31. 33. 39. 44. 47. 49. 53. 55. 96. 100. 108. 111), gefolgt von ἔνθεν (§§ 12. 20. 23. 40. 51. 97) und ἐντεῦθεν (§§ 34. 37; formelhaft bei Ps.-Skylax, z.  B. 95. 96; auch bei Strabon, z.  B. 6,1,5). Hinzu kommen ἔπειτα (§ 12), ferner ἐφεξῆς (§§ 36. 46; Str. 4,3,1), συνεχής (§ 22. 45. 102; Str. 5,4,8 und 6,1,5) bzw. συναφής (§ 35; vgl. συνάπτει/συνάπτον bei Ps.-Skymnos 404. 502. 728) und πλησίον (§§ 102. 105; Str. 5,3,13. 4,5). Es finden sich auch verbale Anschlüsse, so ὑπολαμβάνει (§ 46) und ὑποδέχονται (§ 11; Str. 6,3,11) sowie ἐκδέχεται (§§ 17. 38; Str. 6,1,5). Auch Partizipialkonstruktion im Dativ kommt vor, κάμψαντι (§§ 27. 54; Ps.-Scymn. 150. 566; Str. 5,4,5. 8 und 6,2,1). Mit Blick auf die Künste und Künsteleien der attizistischen Rhetorik bei Dionysios von Byzanz listet Güngerich siebzehn Wörter auf, welche erst in der nacharistotelischen Prosa belegt seien.18 Diese rein chronologische Begrenzung des Vokabulars ist für die Sprachkunst des Verfassers wenig aussagekräftig. Vielmehr muss dem Gebrauch dieser Wörter nachgespürt werden, um mögliche Inspiration aus Vorgängerautoren ausfindig zu machen. So zeigt sich z.  B. eine mehrfache Überschneidung mit Strabon. Was κόλπων καὶ λιμένων ἀνάχυσιν (§ 1) bedeutet, erhellt aus der Beschreibung, welche der augusteische Geograph (3,1,9) vom Menestheus-Hafen in der Nähe der Baetismündung gibt: ἀναχύσεις, sagt er, sind die bei Flut vom Meer gefüllten Einläufe ins Binnenland, welche das Ankern 18

S. XXIX.


2 Das Werk

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bei den dortigen Städten ermöglichen; vgl. ferner 5,4,5 τῆς θαλάττης ἀνάχυσίς τις τεναγώδης («ein seichter Einschnitt des Meeres» Radt). Dass Strabon dort im gleichen Zusammenhang das von Güngerich gelistete Verb ἐγκολπίζειν gebraucht (ἐγκολπίζουσα ἠϊὼν εἰς βάθος), dürfte Dionysios zu πολὺν ἐγκολπιζομένη λιμένα (§ 53) angeregt haben. Zu einer weiteren möglichen Anleihe bei Str. 14,1,24 τὰς ἐκ τοῦ Καΰστρου προσχώσεις s. hier § 23 Komm. Was § 3 ἀνακοπή (‹Rückfluss, Strudel›) betrifft, beschreibt Strabon (3,5,9) damit die Wellenbewegung des Baetis im Mündungsbereich, wie sie hier beim Bosporos auftritt (§ 3). Und wenn Dionysios für die Überfahrt von Chrysopolis nach Byzantion von οἷον ἀφετήριον spricht (§ 110), fällt es schwer, nicht an das Kimmerische Dorf zu denken, welches Strabon (11,2,4) als Abfahrtsstelle (ἀφετήριον) für die Fahrt über die Maiotis bezeichnet. Der ‹Periplus› vom Tanais zum Kaukasus aus den Geographika dürfte unserem Autor also wohl bekannt gewesen sein (s. unten S. 109). Es sei abschliessend noch auf zwei Wörter von Güngerichs Liste hingewiesen, welche uns hellhörig machen. Bei Hestiai besiegten die Kolonisten, so erzählt Dionysios (§ 53), die barbarischen Vorbewohner durch überlegene Strategie, διαστρατηγήσαντες τοὺς βαρβάρους. Polybios, aus dessen Werk unser Verfasser nachweislich schöpfte, gebraucht das seltene Verb von den Galatern im Kampf gegen die Römer (21,39,9) οἱ Γαλάται […] διεστρατήγουν τοὺς Ῥωμαίους. Und was die angehäuften Tributgelder (§ 109 χρυσοῦ τὸν ἀθροισμόν) von Chrysopolis betrifft, dürfte Thukydides (6,26,2) mit dem rein attischen ἅθροισις in einem thematisch vergleichbaren Zusammenhang Pate gestanden haben; dazu s. Komm. Die sieben ausgemachten Hapaxlegomena sind nominaler Art, wozu auch die beiden Partizipialformen αὐτοδρομῶν (§ 53) und στολαγωγήσαντες (§ 8) zählen. In der Regel handelt es sich um Varianten bereits bestehender Wörter, so bei ἐγγυβαθής (§ 1) zu ἀγχιβαθής (§§ 6. 16. 96), παλίνσπαστος zu ἀντίσπαστος (beide § 53), ὑποδόμησις (§ 11) zu ὑποδομή und καθόρμισις (§ 40) zu ἀφόρμησις. Was die syntaktischen Eigenheiten betrifft, sei hier auf den Griff zum inneren Akkusativ hingewiesen, z.  B. § 4 φέρεται δ’ ὁ ῥοῦς ἕλικα πορείαν (‹getrieben wird die Strömung in einem krummen Lauf›) oder § 20 τὴν ἐντομὴν τῆς πέτρας εἰς πολλὴν διασφάγα κοπτόμενον ([der Fuss des Vorgebirges], ‹dessen Felsen zu einem grossen Spalt zerklüftet ist›). Und eine besondere Vorliebe zeigt der Verfasser für den Genitivus absolutus von Partizipien ohne ausgesprochenes nominales Beziehungswort, so etwa § 3 προσπλεόντων καὶ ἀναχωρούντων, § 25 ἀξιωσάντων, § 42 παυσαμένου. 2.3.2 Stil Neben singulären Wörtern versetzt Dionysios seinen Stil gern mit gesuchten Ausdrücken. So falten sich an der Küste die Vorgebirge auf, τῶν ἀκρωτηρίων ἀναπτυσσομένων (§ 1); zu denken ist an eine Armee, welche sich aus fester Formation im Frontgelände auszubreiten beginnt. Der Bosporos erbt (κληρονομεῖ)


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