Christine Grundig. Vom Narren Machen

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Weisheit: Moral-didaktisch und mit satirischem Ton mittels der Figur des Narren, den Text und Holzschnitte des Buchs in 109 Ausprägungen präsentieren. Christine Grundig veranschaulicht das Konzept von Paratextualität und berücksichtigt die besondere mediale Verfasstheit des Narrenbuchs. Sie analysiert verschiedene Narrenschiff-Bearbeitungen unter überlieferungsgeschichtlichen Aspekten: Wie und unter welchen Bedingungen entstanden die Übertragungen? Sind sie ‹Übersetzungen›, ‹Bearbeitungen› oder ‹Adaptationen›? In welchem Maß war Brant an ihnen beteiligt? Welche inhaltlichen, mediengeschichtlichen und autorbezogenen Spezifika weisen sie auf?

CHRISTINE GRUNDIG

Sebastian Brants Narrenschiff von 1494 führt die Leserschaft zur

VOM NARREN MACHEN

VOM NARREN MACHEN

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Wie werden diese Narrenschiffe an ihr intendiertes Publikum, an soziokulturelle und geographische Gegebenheiten angepasst? Wel-

CHRISTINE GRUNDIG studierte Anglistik, Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Universität Würzburg und arbeitete dort am Lehrstuhl für ältere deutsche Philologie. Seit 2017 ist sie an der Universität Zürich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut und als Koordinatorin des Digital History Lab tätig. Sie unterrichtet zudem Studierende im Bereich der Digital Humanities.

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CHRISTINE GRUNDIG

chen Autortypen begegnet die Leserschaft?

Autorschaft und Paratextualität in europäischen Narrenschiffen um 1500





Christine Grundig

Vom Narren Machen Autorschaft und Paratextualität in europäischen Narrenschiffen um 1500

Schwabe Verlag


Diese Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.

Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung, keine kommerzielle Nutzung, keine Bearbeitung 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Christine Grundig, veröffentlicht durch Schwabe Verlag Basel Abbildung Umschlag: Brant, Sebastian: Stultifera navis: narragonice perfectionis nunquam satis laudata navis. [Basel]: [Johann Bergmann von Olpe], [1. August 1497]. Universitätsbibliothek Basel, UBH DA III 1 https://doi.org/10.3931/e-rara-4623 / Public Domain Mark, fol. r 7r. Korrektorat: Nina Sophie Weiß, Laufenburg Cover: icona basel gmbh, Basel Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4932-8 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4933-5 DOI 10.24894/978-3-7965-4933-5 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


Für Antonia



Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.1

Zu Thema, Methode und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.2

Textauswahl und -begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

1.3

Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

1.4

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. Sebastian Brants Narrenschiff – die editio altera . . . . . . . . . . . . . .

39

2.1

Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

2.2

Methodik I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Ein historisches Konzept von Paratextualität . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das Narrenschiff als buchgestalterisches Ensemble – Aspekte von Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 43 65

2.3

Pluralisierung von Autorschaft – Brants Autorschaftskonzept im deutschen Narrenschiff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

2.4

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

3. Narrenschiffe um 1500 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

3.1

Methodik II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Übersetzung – Bearbeitung – Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Zum Übersetzen in der Frühen Neuzeit – Spezifika und Autorschaftskonzepte in den Narrenbüchern . . . . . . . . . . . . . .

89 90

Werkspezifische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Das nüv schiff von narragonia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Beschreibung und Besonderheiten des Werks . . . . . . . 3.2.1.2 Haben anonyme Bearbeiter ein Verständnis von Autorschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101 101 103

3.2

95

110 126


8

Inhalt

3.2.2 Jakob Lochers Stultifera navis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Beschreibung und Besonderheiten des Werks . . . . . . . . 3.2.2.3 Paratexte, Marginalglossierung und Bildbeischriften . . 3.2.2.4 Autorschaft in Abhängigkeit: Locher und Brants Eingreifen in den Text . . . . . . . . . . 3.2.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die französische Vers-Fassung des Pierre de Rivière . . . . . . . . 3.2.3.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Beschreibung und Besonderheiten des Werks . . . . . . . 3.2.3.3 Paratexte, Marginalglossierung und Bildbeischriften . . 3.2.3.4 Autorschaftskonzept, intendiertes Publikum und kulturelle Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 To fortyfy my wrytynge – Alexander Barclays englische Narrenschiff-Bearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.1 Zu Autor und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.2 Cost and Charge: Das Verhältnis zwischen Drucker und Dichter . . . . . . 3.2.4.3 Beschreibung und Besonderheiten des Werks . . . . . . . 3.2.4.4 Paratexte, Marginalglossierung und Bildbeischriften . . 3.2.4.5 Umgang mit den Vorlagen: Kulturelle Adaptation, intendiertes Publikum und Barclay als Autor . . . . . . . . 3.2.4.6 Barclays Autorschaftskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129 132 135 141 155 162 164 167 168 176 193 195 196 207 216 225 239 264 283 289

4. Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Verzeichnis der Abkürzungen und Signaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Verwendete Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Verwendete Signaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Lexika, Bibliographien, Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Primärliteratur und Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327


Vorwort

Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Oktober 2021 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, am Institut für Deutsche Philologie, Ältere Abteilung, eingereicht und im Februar 2022 verteidigt wurde. Während der Konzeption, Recherche, Niederschrift und Korrekturphase ist mir von verschiedenen Kollegen und Kolleginnen, Institutionen sowie von Freunden und meiner Familie unverzichtbare Förderung, produktive Kritik und fortwährende Unterstützung zuteilgeworden, für die ich an dieser Stelle herzlichst danken möchte, ohne sie und ihre wertvolle Hilfe hier im Einzelnen ausführen zu können. Die Dissertation entstand im Wesentlichen während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt Narragonien digital an der Universität Würzburg. Für das Vertrauen, die finanzielle Absicherung und das anregende und vor allem überaus angenehme Arbeitsumfeld bin ich dem Institut für deutsche Philologie, Ältere Abteilung, sowie insbesondere der gesamten Forschungsgruppe sehr dankbar. Joachim Hamm, dem Betreuer und Erstgutachter der Dissertation, gilt mein herzlicher Dank für Ermutigung, Förderung und vielfältige Unterstützung, die ich im Verlauf von zehn Jahren, schon während meines Studiums, der Projektarbeit und der Anfertigung der Doktorarbeit erfahren durfte. Brigitte Burrichter, der Zweitgutachterin, danke ich für die Begleitung der Arbeit. Raphaëlle Jung, Sebastian Leue und Maximilian Wehner danke ich herzlich für viele gewinnbringende und humorvolle Gespräche im Rahmen des Forschungsprojekts, aber auch darüber hinaus. Die Publikation der Dissertation wurde dankenswerterweise durch die finanzielle Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ermöglicht. Außerdem danke ich Harald Liehr vom Schwabe Verlag für die Aufnahme ins Verlagsprogramm; ihm und Ruth Vachek bin ich für die Begleitung vom Manuskript zum gedruckten Buch, ihre freundliche Betreuung und Organisation zu Dank verpflichtet. Daneben habe ich während der letzten Jahre in Gesprächen bei unterschiedlichen Gelegenheiten wie Kolloquien, Tagungen und Kongressen an unterschiedlichen Orten Interesse für das Thema der Arbeit, anregende Diskussionen, nützliche Hinweise, Zuspruch und produktiven Widerspruch erfahren; dafür bin ich sehr dankbar. Für Unterstützung bei der Übersetzung einzelner lateinischer Zita-


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Vorwort

te danke ich Tina Kaschub und Leonhard Welscher. Von Herzen möchte ich Teresa Ende danken für ihr stets offenes Ohr, ihren Zuspruch und ihre aufrichtige Freundschaft, gerade in den letzten beiden Jahren dieses Projekts. Mein größter und herzlichster Dank gilt meiner Familie. Ohne die Unterstützung, das Vertrauen, die Motivation und die innige Liebe meiner Eltern, Erika und Wolfgang Grundig, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Meinem Ehemann, Axel Grundig, bin ich gleichermaßen unendlich dankbar – für seine tatkräftige Unterstützung, seine Geduld, seinen Humor und seine große Liebe, die mich stets begleiten. Zürich, im Juli 2023

Christine Grundig


1. Einleitung

1.1 Zu Thema, Methode und Vorgehen Als Leon Battista Alberti (1404–1472) mit seinem Grundlagenwerk über die Malkunst De pictura 1435 eine «Neubewertung»1 der Kunst auf wissenschaftlicher Basis vornahm, eröffnete er nicht nur den Künstlern neue Perspektiven in Bezug auf die praktische Anwendung von Regeln beim künstlerischen Schaffen, sondern markierte auch den eigentlichen Beginn der Kunstliteratur bzw. Kunsttheorie der Renaissance. Nur ein Jahr später übertrug er seine lateinische Schrift eigenhändig ins Italienische und machte sie damit auch außerhalb des Humanistenkreises, in dem er sich bewegte, einem breiteren, volkssprachigen Publikum zugänglich. Kennzeichnend für seine Herangehensweise ist neben der «mathematisch-wissenschaftlichen Fundierung der Malerei durch Geometrie und Zentralperspektive»2 auch der Blick auf die mögliche Wirkung dieser Perspektive auf das moralische Verhalten und die Affekte der Betrachtenden.3 Alberti war offenbar der Auffassung, dass die Struktur der Perspektive das moralische Verhalten der Rezipierenden steuern kann und es somit vermag, das Subjekt als solches zu formen.4 Die lineare Perspektive lasse die Betrachtenden den Raum neu wahrnehmen; die Strukturierung des Raums erziele so auch eine ordnende Wirkung auf die Rezipienten, die sich darin wiedererkennen können: «Linear perspective had the effect of restructuring the viewer’s experience of space, ultimately altering perception itself».5 Beinahe 100 Jahre später gelang Albrecht Dürer (1471– 1528) mit seiner Schrift Underweysung der Messung6 eine Art Zusammenfassung der mathematisch-geometrischen Verfahren in Bezug auf die (Zentral‐)Perspektive. In der Widmung an seinen Freund Willibald Pirckheimer verweist Dürer auf seine literarischen Vorbilder: Zöllner 1997 De pictura, S. 23. Zöllner 1997 De pictura, S. 23. Das erste Buch von De pictura behandelt diese Aspekte, siehe Alberti 1877 De pictura, Widmung der lateinischen Schrift sowie §§25–26. 3 Wenn ich in dieser Untersuchung für die historischen Texte von z. B. Lesern, Rezipienten oder Zeitgenossen spreche, meine ich stets auch Leser*innen, Rezipient*innen oder Zeitgenoss*innen. Gendergerechte Sprache wird demnach nicht markiert, ist aber immer mitgedacht. 4 Vgl. Haubenreich 2016 Intermedial Construction, S. 390. 5 Haubenreich 2016 Intermedial Construction, S. 390. 6 Dürer 1525 Underweysung. 1 2


12

1. Einleitung

In was eren vnd wirden aber dise kuͤ nst bey den Kriechen vnd Roͤ mern gewest=ist / j zeygen die alten buͤ cher gnugsam an / Wie woll sie nachfolgent gar verloren vnd ob tausent jaren j verborgen gewest / vnd […] wider durch die Walhen an tag gebracht ist worden / j Dann gar leychtiglich verlieren sich die kuͤ nst / aber schwerlich vnnd durch lange zeyt werden sie wider j erfunden / Demnach hoff jch diß meyn fuͤ rnemen vnd vnderweysung / werde kein verstendiger dade= j len / die weyl es auß einer gutten meynung vnd allen kuͤ nstbegirigen zuͦ guͤ t geschicht / […]7

Neben dem Rekurs auf die antiken Autoritäten hebt er v. a. auch die italienischen Vorbilder hervor (Walhen) und schließt damit an Alberti an. Das wohl erfolgreichste literarische Werk weltlichen Inhalts vor Johann Wolfgang von Goethes Werther ist Sebastian Brants Narrenschiff, das am 11. Februar 1494 in der editio princeps von Johann Bergmann von Olpe in Basel verlegt wurde. Der elsässische Humanist Brant wollte auf moral-didaktische Weise und mit satirischem Ton durch die Figur des Narren, der in einer Typologie von 109 verschiedenen Figuren in Text und Holzschnitt präsentiert wird, seine Rezipienten auf den Weg der Weisheit führen. Dies kann gelingen, wenn der Leser sein eigenes Fehlverhalten, seine Untugenden oder moralischen Laster in denen der Narren erkennt, welche Brant in thematisch strukturierten Kapiteln auf rund 300 Seiten in deutschen Knittelversen vor Augen führt. Brant bewegte sich damit nicht nur zeitlich zwischen Alberti und Dürer, sondern griff u. a. auch die Wirkung der Perspektive auf, obgleich nicht im kunsttheoretischen, sondern vielmehr metaphorischen Sinn. Obwohl die Holzschnitte im Narrenschiff nicht linear perspektivisch (im mathematischen Sinn Dürers) konstruiert sind, finden sich in einigen Abbildungen (z. B. zu den Kapiteln 9, 49, 71 und 104) im Bildhintergrund beispielsweise geflieste Wände und Böden, die in diesen perspektivisch zurücksinken.8 Es ist aber v. a. jene emotional-moralische Steuerung, die vom Kunstobjekt aus auf den Betrachter ihre Wirkung entfaltet, wie Alberti konstatierte, die sich in Brants Werk sowohl im Bild als auch im Text manifestiert. Brants und Dürers Interesse an perspektivischen Systemen helfen, die Techniken zu verstehen, die den Leser bzw. Betrachter an einen ‹idealen› Punkt der Wahrnehmung führen sollen.9 Bei Brant geht es aber weniger um die Steuerung des Lesers aus der Kunsttheorie heraus, als vielmehr um das Sich-selbst-Erkennen des Rezipienten in Bild und Text. Brant hält dem Leser mithilfe der Symbolfigur des Narren den Spiegel vor und gibt dem Rezipienten somit eine (neue) Perspektive – im besten Sinn des Worts (V. 25–40):

7 8 9

Dürer 1525 Underweysung, fol. A 1v. Vgl. Haubenreich 2016 Intermedial Construction, S. 385. Vgl. Haubenreich 2016 Intermedial Construction, S. 389.


1.1 Zu Thema, Methode und Vorgehen

Der bildniß jch hab har gemacht j Wer yeman der die gschrifft veracht j Oder villicht die nit künd lesen j Der siecht jm molen wol syn wesen j Vnd fyndet dar jnn / wer er ist j Wem er glich sy / was jm gebrist / j Den narren spiegel ich diß nenn j Jn dem ein yeder narr sich kenn j Wer yeder sy würt er bericht j Wer recht in narren spiegel sicht j Wer sich recht spiegelt / der lert wol j Das er nit wiß sich achten sol j Nit vff sich haltten / das nit ist / j Dann nyeman ist dem nütz gebrist j Oder der worlich sprechen tar j Das er sy wiß / vnd nit ein narr j10

Ganz nach dem Leitsatz nosce te ipsum führt Brant den Leser durch sein Narrenbuch, um ihm durch exempla ex negativo und somit einer Didaxe ex negativo Orientierung in Fragen des praktischen Lebens zu geben. Der Humanist vermittelt Weltwissen: Er beruft sich auf die moraldidaktische Literatur der Antike und des Christentums und präsentiert dem Leser demnach das Wissen von Mensch und Natur – durch antike Autoritäten legitimiert.11 Neben der inhaltlich-moraldidaktischen und satirischen Vermittlung von Wissen, die dem Rezipienten menschliche Verfehlungen anhand der Narrenfigur veranschaulicht, ist es v. a. die spezifische mediale Verfasstheit des Narrenschiffs, die einer eingehenden Betrachtung bedarf. Brant und sein Verleger Bergmann von Olpe wussten die gestalterischen Möglichkeiten der neuen Buchdruckkunst zu nutzen: Die 112 Kapitel (in der Erstausgabe), die jeweils zwei bzw. vier Seiten einnehmen, folgen einem Grundlayout, das Mottoverse, Holzschnitt, Überschrift, Spruchgedicht und Bordüren einander zuordnet. Kapitel- und Seitenlayout sind schematisiert und semantisch relevant: Sprachliche, bildliche und typographische Elemente bilden ein bedeutungskonstituierendes Ensemble, das miteinander interagiert. Die einzelnen (para‐)textuellen Elemente tragen auf ihre medienspezifische Weise zur Sinnstiftung und -vermittlung bei. Bild, Text und Typographie wirken zusammen. Sogenannte ‹Bildbücher› dieser Art sind ein beliebter früh-

Brant 1495, fol. a 2r. Für eine Übersicht siehe das kommentierte Orte- und Personenverzeichnis der digitalen Narrenschiff-Edition Narragonien digital: http://www.narragonien-digital.de/exist/register_lem ma.html (11.06.23). 10

11

13


14

1. Einleitung

neuzeitlicher Buchtyp, der zu den Vorgängern der Emblematik zählt und ein Paradebeispiel für Intermedialität um 1500 darstellt.12 Der Erfolg von Brants Narrenbildbuch erweist sich an seiner Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte: Bereits zwischen 1494 und 1500 erschienen europaweit 28 Druckausgaben des Narrenschiffs. Brant selbst hatte von 1494 bis 1499 drei deutschsprachige Ausgaben gemeinsam mit Bergmann von Olpe in Basel herausgegeben. Noch im Erscheinungsjahr der editio princeps, 1494, kamen die ersten unautorisierten Nachdrucke in Augsburg, Nürnberg und Reutlingen auf den Buchmarkt; sie konnten sich in ihrer buchmedialen Ausstattung aber nicht mit den Basler Ausgaben messen. Mehr oder weniger zeitgleich erschienen die ersten Übersetzungen und Bearbeitungen bzw. Adaptationen13 der Moralsatire. Fünf Auflagen erlebte die sogenannte «Interpolierte Fassung», die in der Straßburger Offizin des Johannes Grüninger gedruckt wurde und deren bisher nicht zu identifizierende(r) Bearbeite(r) den Textbestand des Narrenschiffs erheblich erweiterte(n). Dass das Narrenschiff bald auch in europäische Gefilde segeln konnte, war nur durch die Übertragung ins Lateinische möglich. Brant beauftragte seinen ehemaligen Schüler Jakob Locher damit und sicherte so das Fortwirken des Bucherfolgs in Europa. Die Stultifera navis wurde 1497 in Basel publiziert und erfuhr bis 1572 zehn Neuauflagen; sie war ihrerseits Vorlage für Übertragungen ins Niederdeutsche, Niederländische, Französische und Englische.14 Unüberschaubar ist auch die literarische Rezeption: So gilt das Narrenschiff als volkssprachiges Gründungsdokument der Narrenliteratur, die im 16. Jahrhundert in Europa eine Blüte erlebte. Folgende drei zentrale Ansatzpunkte, die bisher in der Narrenschiff-Forschung nicht miteinander verknüpft betrachtet wurden, sind für die vorliegende Untersuchung leitend: 1. (Para‐)textuelle, typographische und mediale Bestandteile der einzelnen Ausgaben formen sich zu einem bedeutungsstiftenden, buchgeschichtlichen Ensemble. 2. Auf diesen Bestandteilen beruhen verschiedene Konzepte von Autorschaft der jeweiligen Bearbeiter, die Anpassung an das jeweilige Publikum sowie an den kulturellen und sprachlichen Raum des Ziellands. 3. Der Konnex dieser Untersuchungskriterien wird in einem diachronen, auf der Überlieferungsgeschichte basierenden Überblick zu ausgewählten Bearbeitungen des Narrenschiffs um 1500 veranschaulicht. Vgl. u. a. Plotke 2010 Emblematik, Hamm 2016 Varianz, Enenkel 2014 Illustrations, Knape 1988 Mnemonik. 13 Zur Terminologie siehe 3.1.1. 14 Für einen vollständigen Überblick über sämtliche Ausgaben Knape/Wilhelmi 2015 Bibliographie. 12


1.1 Zu Thema, Methode und Vorgehen

In der Struktur der Studie schlagen sich diese Punkte wie folgt nieder: in einer Zweiteilung in zum einen die Behandlung des Brantschen Narrenschiffs als Grundlage und zum anderen in ausgewählte Narrenschiff-Übersetzungen bzw. -Adaptationen (Narrenschiff-Überlieferung). Unter ‹Rezeption› wird hier die Auf- und Übernahme des Narrenthemas, ausgehend vom deutschen bzw. lateinischen Narrenbuch, in ein literarisches Werk verstanden; dem wird ein weit gefasster Werkbegriff zugrunde gelegt.15 Spätere Auflagen, dialektale Varianten des Narrenschiffs wie beispielsweise die Reutlinger, Augsburger oder Nürnberger Fassung(en) gehören zur Narrenschiff-Überlieferung. Der hier verwendete Begriff der ‹Überlieferungsgeschichte›16 setzt die genetisch voneinander abhängigen Narrenbücher historisch miteinander in Beziehung. Er beinhaltet sowohl Fragen nach der Art und Weise des Überlieferns als auch nach dem jeweiligen Status bzw. der jeweiligen Eigenständigkeit des Überlieferten und seiner Akteure (Autor, Bearbeiter, Verleger etc.). An ausgewählten Narrenschiff-Kapiteln der editio altera wird das zu historisierende Konzept von Paratextualität exemplarisch veranschaulicht; es wird zudem die besondere mediale Verfasstheit des Narrenbuchs berücksichtigt. Ausgehend von Gérard Genettes moderner Definition von ‹Paratext›,17 welche diesen deutlich vom ‹Text› abzugrenzen sucht und bisweilen auch eine «latent vorhandene Hierarchisierung des Verhältnisses von Text und Paratext»18 darlegt, rückt an dessen Stelle die Neubewertung des Paratextualitätsbegriffs durch Frieder von Ammon und Herfried Vögel19 für die Frühe Neuzeit. V. a. durch die Erfindung des Buchdrucks in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verändern sich Form und Funktion des Paratexts; paratextuelle Elemente wie z. B. Widmung, Vorrede, Epigramm, Überschrift, Motto oder Schmuckbordüre werden nicht nur in ihrem

Unter einem strengen Werkbegriff wird «eine nach Form und Inhalt fest fixierte Textgröße» verstanden; «sie bindet den Übersetzer in ihrer Einheit und Ganzheit und grundsätzlich bis ins einzelne Wort und darf von ihm nicht verändert werden» (beide Zitate Worstbrock 2004 Wiedererzählen, S. 131). Vgl. zum hier zugrunde gelegten Werkbegriff insb. Knape 2023 Medienregulativ sowie zur Differenz zwischen Text und Medium Knape 2009 Kunstrhetorik. Es ist von einem weiter gefassten Werkbegriff auszugehen, der Transformationen und Adaptationen bei der Übertragung von einem Werk in ein anderes zulässt. 16 Zur Überlieferungsgeschichte als methodischem Paradigma für die literaturwissenschaftliche Mediävistik bzw. Frühneuzeitforschung siehe die Beiträge in Brunner/Löser/Klein 2016 Überlieferungsgeschichte, insb. Hamm 2016 Varianz zu den deutschen Narrenschiff-Ausgaben des 15. Jahrhunderts. 17 Vgl. Genette 2001 Paratexte. 18 Ammon/Vögel 2008 Pluralisierung, S. XVII. 19 Vgl. Ammon/Vögel 2008 Pluralisierung. Zur Bewertung der pragmatischen Funktion der Paratexte für die Präsentation des Texts in Brants Narrenschiff und seinen Übersetzungen Burrichter 2017 Paratexte. 15

15


16

1. Einleitung

Vorkommen häufiger, sondern differenzieren sich auch inhaltlich aus.20 Im Folgenden wird unterschieden zwischen den rahmenden Paratexten (wie z. B. Vorwort, Titelholzschnitt oder Kolophon) und den die aufgeschlagene Buchseite konstituierenden paratextuellen Elementen (wie z. B. Motto, Bildbeischrift oder Marginalien). Diskutiert wird auch die prekäre Frage nach den Grenzen von Text (im Sinne der Narrenkapitel) und rahmendem Paratext. In der Frühen Neuzeit gehen die Paratexte weit über ihre ästhetische Funktion hinaus; sie steuern nicht nur die Leser (indem sie Hinweise und Informationen zum Text, seiner Entstehung und seiner Intention liefern), sondern sie werden auch zur Bühne für eine mögliche Inszenierung von Autorschaft.21 Karl A. E. Enenkel beschreibt, wie die Verfasser frühmoderner Werke «ganz nachdrücklich als Urheber der Werke hervor[treten]»22 – und zwar an keinem anderen Ort als in den Paratexten. Dies ist für die Narrenschiffe von zentraler Bedeutung. Diese Studie möchte zeigen, dass eine Abgrenzung des Texts von den ihn umgebenden paratextuellen Elementen auf der Ebene der Sinnkonstitution kaum mehr sinnvoll erscheint: Im deutschen Narrenschiff wird der Paratext dem Text nicht mehr untergeordnet. Sobald das Narrenbuch in die Überlieferung eintritt, wird deutlich, dass es gerade die paratextuellen Elemente (wie z. B. Vorreden, Briefe, Widmungsgedichte) sind, in denen die Autorschaft und das Selbstverständnis eines Autors bzw. Bearbeiters reflektiert, ja sogar propagiert werden können. Die ausgewählten Beispiele werden zeigen, «welch große Rolle der Paratext bei der Konstruktion und Inszenierung von Autor- (und Herausgeberschaft) spielt»23. Für eine europäische Überlieferungsgeschichte des Narrenschiffs wurde dies bisher in der Forschung nicht berücksichtigt.24 Ferner werden Text, Bild und Typographie zu einer Einheit: Sie wirken als sinnkonstituierende medial geprägte Komposition. Die alleinige Text-Bild-Intermedialität wird ergänzt um Elemente wie Kapitelmotto, Kapitelüberschrift, Schmuckbordüren (und mit der lateinischen Narrenschiff-Bearbeitung auch um Marginalien und Holzschnittbeischriften).25 Für die Narrenschiff-Forschung kann demnach vom Begriff der ‹Medialität› ausgegangen werden.26

Vgl. auch Ammon/Vögel 2008 Pluralisierung, S. IX–XIII und Kap. 2.2.1. Vgl. zudem Ammon/Vögel 2008 Pluralisierung, S. XIV–XVII sowie Kap. 2.2.1 und 2.3. 22 Enenkel 2014 Autorschaft, S. 16. Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.1.2. 23 Ammon/Vögel 2008 Pluralisierung, S. XVI. 24 Für ausgewählte deutsche Narrenschiffe siehe Hamm 2016 Varianz. 25 Dazu 2.2.2; zum Begriff der ‹Intermedialität› siehe als Standardwerk u. a. Robert 2014 Intermedialität und ders. 2017 Intermedialität sowie als frühneuzeitliche Fallstudie Hamm 2015 Schwarzenberg. 26 Zur Begrifflichkeit mittelalterlicher Medialität avant la lettre siehe ausführlich Kiening 2016 Medialität. Zu den Spezifika für das Narrenschiff siehe 2.2.2 sowie die dort angegebene Forschungsliteratur. 20 21


1.1 Zu Thema, Methode und Vorgehen

Kernstück der vorliegenden Untersuchung bildet die Analyse der Narrenschiff-Bearbeitungen unter überlieferungsgeschichtlichen Aspekten: Wie und unter welchen Bedingungen entstanden Übertragungen des Narrenschiffs in die lingua latina und in andere Volkssprachen? Sind diese Übertragungen ‹Übersetzungen›, ‹Bearbeitungen› oder ‹Adaptationen›? In welchem Maß war Brant an ihnen beteiligt bzw. inwiefern lassen sich die Übertragungen auf ihn als Urheber zurückführen? Welche inhaltlichen, mediengeschichtlichen und autorbezogenen Spezifika und (Ver‐)Änderungen gegenüber dem/den jeweiligen Ausgangstext(en) weisen sie auf? Wie werden diese Narrenschiffe an ihr intendiertes Publikum, an soziokulturelle und geographische Gegebenheiten angepasst? In welchem Verhältnis stehen sie zu anderen (humanistisch geprägten) Übersetzungen um 1500 (aus dem Lateinischen in Volksprachen, aber auch vice versa)? Stehen sie untereinander in einem agonalen Verhältnis? Diesen Leitfragen wird im methodischen Teil des Kapitels zur Narrenschiff-Überlieferung und den zugehörigen Werkanalysen nachgegangen; Grundlage bildet der Übersetzungsbegriff, der zuletzt für die humanistische Antikenrezeption im frühneuzeitlichen Deutschland27 und daran anschließend im Schwerpunktprogramm «Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit» der Deutschen Forschungsgemeinschaft28 zugrunde gelegt wurde. Es wird der Versuch unternommen, diese Auffassung von Übersetzung auf die Überlieferungsgeschichte des Narrenschiffs zu übertragen und gegebenenfalls auf dessen Besonderheiten zuzuschneiden, um zu einem historisch adäquaten Übersetzungsbegriff zu gelangen. Was das für die ausgewählten Werke und deren Charakteristika in Bezug auf ihren Autor, seine Bearbeitungstendenzen, die sowohl layout-technische wie auch inhaltliche Struktur und den (paratextuellen) Aufbau der jeweiligen Übertragungen bedeutet, wird in den werkspezifischen Analysen (von den deutschsprachigen Ausgaben über Locher hin zu einem der französischen Bearbeiter und zuletzt zum englischen Vers-Narrenschiff) nachgezeichnet. Ein Schwerpunkt liegt hier jeweils auf der paratextuellen Ausstattung der Narrenbücher sowie auf der Markierung des Bearbeiters und dem daraus resultierenden Konzept von Autorschaft, das dieser für sich mehr oder weniger offensichtlich beansprucht und das sich insbesondere in den Paratexten überhaupt erst entfalten kann. Neben den Paratexten werden in diesem Kontext exemplarisch v. a. sogenannte Autorkapitel betrachtet. Darunter verstehe ich Kapitel, deren Sprechstimme/-instanz mit dem Autor bzw. der Autorrolle gleichgesetzt werden kann und auch soll; so z. B. Kapitel, in denen Brant sich selbst nennt, solche, die direkt auf das Werk referieren (z. B. Das Schluraffen schiff) oder solche, die dem KapiteltiVgl. Toepfer/Kipf/Robert 2017 Antikenübersetzung. Vgl. das DFG-Schwerpunktprogramm 2130 «Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit (1450–1800)»: https://www.spp2130.de/ (11.06.23) und Toepfer/Burschel/Wesche 2021 Übersetzen.

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1. Einleitung

tel nach (z. B. entschuldigung des dichters) eindeutig als Autorkapitel zu beschreiben sind. Die Analyse der Narrenschiff-Überlieferung fordert hier einen sehr breiten Übersetzungsbegriff, der auf vielen und verschiedenen Ebenen des Transfers stattfindet: Text/Semantik, Text-Bild, Paratexte, medialer Transfer (das Übertragen eines Buchs als Medium in ein anderes Buch: Typographie, Layout, Bilingualität), kultureller Transfer, Transfer autopoetischer Konzepte usw. Dieser erweiterte Übersetzungsbegriff erhält durch die Untersuchung genealogisch voneinander abhängiger Narrenschiff-Werke zudem eine zeitliche, diachrone Ebene. Das ‹Übersetzen› des Narrenschiffs ins Lateinische und in die Volkssprachen darf als Kulturtechnik der Frühen Neuzeit begriffen werden29, mit der gleichzeitig ein sehr breit gefasster Autorbegriff einhergeht. Anknüpfend an die drei zentralen Ansatzpunkte dieser Untersuchung ergeben sich daraus folgende Leitthesen: 1. Das mediale Konzept der jeweiligen Narrenschiffe wird mit dem Eintreten in die (europäische) Überlieferung dynamisch und an neue Gebrauchssituationen angepasst. 2. Paratexte werden zum Ort, an dem sich Autorschaft konstituiert, exponiert und individualisiert. Dies betrifft sowohl die rahmenden Paratexte, die instabil und disponibel werden als auch diejenigen, die die aufgeschlagene Buchseite konstituieren. 3. Die untersuchten europäischen Narrenschiffe um 1500 präsentieren eine Gradation von Autorschaft, woraus sich verschiedenen frühneuzeitliche Autor-Typen und damit verbunden divergierende Konzepte von Übersetzen, Bearbeiten und Adaptieren in der Frühen Neuzeit ableiten lassen.

1.2 Textauswahl und -begründung Den Ausgangstext für diese Studie bildet Sebastian Brants Narrenschiff in der Zweitausgabe von 1495. Gut ein Jahr nach der editio princeps (11. Februar 1494) erschien ebenfalls in der Basler Offizin des Johann Bergmann von Olpe am 3. März 1495 die von Brant korrigierte Zweitausgabe, die später auch die Vorlage für die lateinische Übersetzung des Jakob Locher bildete. Im Vergleich zur Erstausgabe kommen zwei neue Kapitel (Von disches unzucht und Von fasnacht narren) hinzu, die als neue Lage eingebunden wurden.30 Die Ausgabe ist mit einem Vgl. das DFG-Schwerpunktprogramm 2130 «Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit (1450–1800)»: https://www.spp2130.de/ (11.06.23) und Toepfer/Burschel/Wesche 2021 Übersetzen. 30 Vgl. https://www.narragonien-digital.de/exist/apps/narrenapp/textkorpus/gw5046.html (11.06.23). 29


1.2 Textauswahl und -begründung

Titelholzschnitt sowie 114 Holzschnitten (darunter acht einmalige Wiederholungen31) zu den jeweiligen Kapiteln ausgestattet; diese sind jeweils von zwei Schmuckbordüren (Randleisten) gerahmt. Zu sechs Kapiteln wurden die Holzschnitte neu geschnitten, die thematischen Aspekte des Bilds wurden beibehalten.32 Die editio altera ist der editio princeps hier vorzuziehen: Sie zeichnet sich nicht nur durch die Tilgung von Fehlern durch Brant, sondern auch durch zwei zusätzliche Kapitel aus. Die Eingriffe Brants weichen zwar im Einzelnen nicht wesentlich von der Erstausgabe ab, dennoch weist die von Brant korrigierte Zweitausgabe diejenige Textgestalt auf, die Brant verantworten wollte.33 Auch in Hinblick auf die inhaltliche Fragestellung dieser Studie ist die Zweitausgabe zu bevorzugen, da sie als Grundlage für die lateinische Übersetzung diente. So können die unterschiedlichen Narrenbücher besser miteinander verglichen werden. Zitiert wird hier das Regensburger Exemplar der Zweitausgabe (vollständig, nicht rubriziert und nicht koloriert).34 Im Folgenden: «Brant 1495». Nicht nur aufgrund der Nähe der zeitlichen Entstehung, sondern v. a. auch wegen ihrer stilistischen Spezifika ist die sogenannte «Interpolierte Fassung», die 1494/1495 bei Johannes Grüninger in Straßburg gedruckt wurde, als zweites deutschsprachiges Narrenbuch für diese Studie von Bedeutung. Die Ausgabe gibt vor, zur gleichen Zeit wie die editio princeps erschienen zu sein, wurde aber nachweislich nicht nach dem 23. Mai 1495 gedruckt.35 Ihre Textgrundlage bildet die Basler Erstausgabe (es fehlen die in der Zweitausgabe hinzugefügten zwei Kapitel). Der Text ist zweispaltig gesetzt. Die Ausgabe enthält 123 Holzschnitte, von denen sich (nur) 63 unterscheiden. Das von Brant intendierte Layout der Basler Ausgaben wurde aufgegeben.36 Für meine Fragestellung hinsichtlich des Autorschaftskonzepts in der Frühphase der Narrenschiff-Rezeption muss die Straßburger Fassung Eingang in die Untersuchung finden: Ein anonymer Interpolator 31 Vgl. https://www.narragonien-digital.de/exist/apps/narrenapp/textkorpus/gw5046.html (11.06.23). 32 Vgl. https://www.narragonien-digital.de/exist/apps/narrenapp/textkorpus/gw5046.html (11.06.23). 33 Vgl. eingehend die Forschung zur Zweitausgabe bei z. B. Knape 1992 Brant, Honemann 1999 Narrenschiff, Mausolf-Kiralp 1997 Traditio und Rockenberger 2011 Drucküberlieferung. Zarncke 1854 Narrenschiff legt in seiner historisch-kritischen Ausgabe zwar die Basler Erstausgabe zugrunde, fügt die Zusätze der Zweitausgabe aber im Anhang an. 34 Sebastian Brant: Das Narren Schyff (Basel [Johann Bergmann von Olpe], 5. 3. 1495; GW5046). Bearbeitet von Joachim Hamm. In: Burrichter, Brigitte; Hamm, Joachim (Hgg.): Narragonien digital. Digitale Textausgaben von europäischen Narrenschiffen des 15. Jahrhunderts. Würzburg 2020. URL: https://www.narragonien-digital.de/exist/apps/narrenapp/text korpus/gw5046.html. 35 Vgl. https://www.narragonien-digital.de/exist/apps/narrenapp/textkorpus/gw5048.html (11.06.23). 36 Zu all diesen Merkmalen Kap. 3.2.1.1.

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